Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Der Tip für den hochgelobten Roman von Joël Dicker kam aus unserem Papyrus-Schreibforum, der Inhalt klang interessant und für komplexe Krimis bin ich immer zu haben. Auch international war das Buch ein gewaltiger Erfolg und ist nur knapp am Prix Goncourt (der prestigeträchtigste französische Literaturpreis) verbeigeschrappt, eigentlich sollte man damit nichts falsch machen. Also habe ich – zugegebenermaßen mit hoher Erwartungshaltung – zugeschlagen.
Worum gehts?
Auf stolzen 740 Seiten wird die Story aus der Sicht des jungen Autors Marcus Goldmann erzählt. Nachdem sein Erstling ein überwältigender Erfolg geworden ist, holt ihn eine üble Schreibblockade ein. In seiner Verzweiflung reist er in das kleine Städtchen Aurora in New Hampshire, wo sein Mentor Harry Quebert lebt. Von ihm erhofft sich Marcus Hilfe, doch dann gerät Harry, selbst ein gefeierter Autor, plötzlich unter Mordverdacht, als auf seinem Grundstück zufällig das Skelett der vor über dreißig Jahren verschwundenen, fünfzehnjährigen Nola gefunden wird. Was niemand auch nur geahnt hat: Sie ist damals Harrys Geliebte gewesen. Der Fall beschäftigt das ganze Land und es sieht nicht gut für Harry aus, Marcus ist jedoch von seiner Unschuld überzeugt und beginnt, selbst zu ermitteln …
Kritik
Die Handlung springt nun ständig zwischen dem heute ermittelnden Marcus und den damaligen Geschehnissen hin und her und liest sich dank der immensen Verschachtelungen oft etwas unübersichtlich. Mit überraschenden Wendungen wird nicht gegeizt, was anfangs durchaus noch Spaß macht. Doch je weiter die Geschichte voranschreitet, desto unglaubwürdiger und an den Haaren herbeigezogen wirken sie, auch die Logiklöcher sind irgendwann groß genug, um darüber zu stolpern.
Es dreht sich also um einen Kriminalfall, aber auch um die Kunst der Schriftstellerei – und um die Liebe. An sich eine tolle Sache mit Potenzial ohne Ende, die Umsetzung lässt in meinen Augen leider einiges zu wünschen übrig.
Wenn sich zwei überragende Schriftsteller, wie Harry und Marcus dargestellt werden, über das Schreiben unterhalten, erwartet man als Leser schon die eine oder andere Kostprobe ihres Könnens, genauso wenn der Meister sein Wissen an seinen Schüler weitergibt. Tatsächlich wird man mit abgedroschenen Kalenderblatt-Weisheiten abgespeist. Auch die Auszüge aus ihren Romanen zeugen bestenfalls von durchschnittlichem Talent.
Genauso enttäuschend ist die Liebesgeschichte konstruiert. Ein dreiunddreißigjähriger Autor verliebt sich unsterblich in ein fünfzehnjähriges Mädchen, Lolita lässt grüßen. Von einer großartigen, überwältigenden, bahnbrechenden Liebe ist da ständig die Rede, wie sie einem nur einmal im Leben begegnet. Die Begegnungen von Nola und Harry laufen jedoch völlig banal ab, wirken oberflächlich, trivial und infantil, selbst für eine Fünfzehnjährige. Bei einem erwachsenen Mann, einem Meister der Worte, kann man nur noch den Kopf schütteln und sich denken, gut, er war halt nicht mit dem Hirn, sondern mit einem anderen Körperteil bei der Sache. Fehlanzeige, die Angelegenheit läuft absolut prosaisch ab und erinnert in erster Linie an eine harmlose Teenager-Schwärmerei. Vor allem aber vermag sie nicht zu überzeugen, man nimmt Harry seine gewaltigen Gefühle einfach nicht ab.
Den meisten Figuren fehlt der Tiefgang, sie wirken nebulös, nicht so richtig greifbar – und nicht sonderlich intelligent. Selbst der großartige Harry Quebert bildet da keine Ausnahme. Einige, wie Marcus‘ Mutter, sind über alle Maßen hinaus überzeichnet, während andererseits auch ein paar Stereotypen im Rennen sind.
Der gesamte Plot entwickelt sich mehr und mehr zu einem überkonstruierten Moloch, der mit immer krampfhafteren Verwicklungen versucht, ständig ein weiteres, noch spektakuläreres Überraschungsmoment draufzusetzen.
Besonders seltsam erscheint dabei, dass handlungsmäßig so gut wie nichts passiert. Marcus zieht um die Häuser und interviewt die Bewohner zu den damaligen Geschehnissen, viel mehr ist es nicht. Das meiste erfährt man also aus zweiter Hand, die Show don’t Tell – Regel wurde so konsequent ignoriert, wie ich es nur selten gesehen habe.
Auch sprachlich fand ich das Buch nicht überzeugend. Der gesamte Text ist bis zum Überquellen mit Redundanzen vollgestopft, wesentliche Dinge (und genauso diverse weniger wichtige) werden immer wieder und wieder erwähnt. Der Schreibstil liest sich insgesamt etwas holperig und keinesfalls so, als ob darin großartige Autoren zu Wort kommen würden. Was das angeht, hatte ich mehr erwartet. Zudem hat mich gestört, dass es sich selbst sehr ernst zu nehmen scheint und arg humorlos auftritt.
Fazit
Trotz alledem …
… fand ich es nicht restlos schlecht. Es hat einen gewissen Unterhaltungswert, ab einem bestimmten Punkt fragt man sich, wie oft die Erkenntnisse noch von Grund auf wieder umgekrempelt werden – und was zum Schluss dabei herauskommt. Ich habe mir außerdem gedacht, faszinierend, der Autor hat hier das Kunststück fertig gebracht, mit so ziemlich allen gängigen Schreibregeln zu brechen, und hat dafür ein passables Buch abgeliefert.
Es ist ein netter Schmöker für den Urlaub, wenn man mit null Action leben kann, mehr aber auch nicht. Den ganzen Hype darum kann ich hier nicht nachvollziehen.
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Joël Dicker
Taschenbuch; 736 Seiten
Piper Taschenbuch; 12. Edition (2. Mai 2016)
ISBN-13 : 978-3492307543
Bildquellen
- Quebert: Bildrechte beim Autor