Rezensionen

Die Stadt der Blinden

«Die Stadt der Blinden» von José Saramago, postmoderner Roman, veröffentlicht im btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Taschenbuch, 7. Auflage – Oktober 2015, erstmals in deutscher Sprache erschienen 1997 im Rowohlt Verlag

Die Hauptfiguren sind ein erblindeter Augenarzt und dessen Frau.

Eine Katastrophensituation, hervorgerufen durch eine Pandemie, bei der innerhalb kürzester Zeit Männer, Frauen, Kinder unterschiedlicher Herkunft ohne ersichtlichen Grund erblinden. Vollkommen überfordert weiß die Regierung keinen anderen Rat als alle Infizierten und solche, die einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt sind, in einer verlassenen, psychiatrischen Klinik wegzusperren.
Die Frau eines erblindeten Augenarztes ist als einzige nicht erkrankt. Sie lässt sich freiwillig mit ihrem Mann zusammen in die Klinik bringen.
Innerhalb weniger Tage herrscht in der Isolation vollkommenes Chaos. Die hygienischen Zustände sind unzumutbar. Niemand hilft. Durch Soldaten bewacht, wird jeder erschossen, der versucht, seiner Isolation zu entkommen.

Eine Gruppe Blinder reißt die Macht an sich. Es kommt zum Diebstahl von Essensrationen, Vergewaltigung und Mord. Bald unterscheiden sich die Menschen kaum noch vom Tier.

Die Glaubwürdigkeit und inhaltliche Gesamthandlung ist recht schlüssig, wobei das Ende überrascht und Erklärungen dazu offen bleiben. Ein wenig verwirrend ist zunächst die Einteilung Infizierter und Nicht-Infizierter, die sich von anderen Nicht-Infizierten nur insofern unterscheiden, dass die Einen Kontakt zu Infizierten hatten und die Anderen nicht. Es verwirrt deshalb, weil eigentlich jeder Kontakt zu einem Erblindeten hat oder hatte.

Gewöhnungsbedürftig ist der außergewöhnliche Stil, bei dem weitestgehend auf Satzzeichen und Absätze verzichtet wird. Selbst die einzelnen Kapitel heben sich nur durch einen kurzen Absatz mit nachfolgendem Fettdruck der ersten Worte vom restlichen Fließtext ab. Wörtliche Rede wird überhaupt nicht gekennzeichnet. Dennoch ist der Text hervorragend gelungen. Nicht immer, jedoch fast immer, wird klar, wer gerade redet oder handelt, was an den wenigen Stellen, an denen es nicht deutlich wird, jedoch keine Rolle spielt, um der Handlung weiter zu folgen. Das Werk ist erstaunlich stressfrei zu lesen, vorausgesetzt, man lässt sich auf die ungewöhnliche Form ein.

Leider wird zu oft die Blindheit erwähnt, eine weiße Blindheit, wo Blindheit doch sonst schwarz wahrgenommen wird, aber nein, sie ist weiß. Und bei der x-ten Wiederholung weiß das nun wirklich jeder. Dass Blinde nichts sehen ist ebenso eindeutig. Auch hier hätte der Autor auf Wiederholungen dieser Tatsache verzichten können.

«Die Stadt der Blinden» hat mich beeindruckt, gleichermaßen erschrocken und auch nachdenklich gemacht. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass ich das Buch erst im Frühjahr 2022 gelesen habe und nicht schon bei seiner Veröffentlichung, denn dann hätte ich es mit anderen Augen, im übertragenen Sinne mit blinden Augen gelesen.
Zu deutlich sind die Parallelen im Umgang mit dem Corona-Virus, den Erkrankten, den Gefährdeten, den Geimpften, den Impfgegnern und wohin uns das im Extremfall führen könnte.

Trotz des eigenwilligen Stils und einiger Schwächen durch zu häufige Wiederholungen der Umstände ist das Buch lesenswert.
Jeder, der sich gern mit den Grundsätzen unserer Gesellschaft beschäftigt, politische Entscheidungen sinnvoll hinterfragt und sich mit den damit zusammenhängenden, möglichen Konsequenzen auseinandersetzen mag, wird hier bestens unterhalten.
Leser, die sich leicht von einem ungewöhnlichen Stil ablenken lassen oder von einer Legasthenie betroffen sind, sollten dieses Buch eher ignorieren. Für diesen Personenkreis dürfte der Text recht qualvoll sein, ebenso wie die Blindheit der Romanfiguren.

Ich vergebe 4 von 5 Sternen.

Ich bin 56 Jahre alt. Katzen-(dressur), Pferde, Motorräder, Musik, Garten, Australien ... meine Interessen sind vielseitig. Die Begeisterung für Sprache hatte sich schon im Vorschulalter eingestellt. Stolze Eltern, gute Noten in Deutsch und Englisch. Abitur, Lehre, Job - So weit, so gut. Und dann der Geburtstagswunsch meines langjährigen Partners und heutigen Ehemannes: Ein Buch! Sein Wunsch war mir Befehl. Seitdem höre ich auf meine Protagonisten ... Absurd, aber wahr.

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