Shortstories

Harriet lächelt

Punkt 28, natürlich. Das wäre die einzige Möglichkeit, doch Harriet erschauderte. Punkt 28 brachte 100 Pluspunkte auf einen Schlag, sehr lukrativ, doch sie verabscheute oralen Sex und vermied diese Praktik, wo es nur ging. Aber diesmal würde wohl kein Weg dran vorbeiführen.

In dieser Nacht Harriet erwirtschaftete Harriet dank Punkt 28 ihre 100 Pluspunkte, und gleich noch 30 weitere für eine ‚normale‘ Nummer mit dazu, doch etwas in ihr war zerbrochen.
Mit einem Schlag war ihr klar geworden, dass ihre Ehe von Grund auf falsch und ungesund ablief und sie eigentlich aus tiefster Seele unglücklich war. Das war auch der Zeitpunkt, von dem an ihr Lächeln nicht mehr von Herzen kam, sondern zu einer Maske der Pflichterfüllung mutierte.

Doch als bedächtiger Mensch, der sie nun einmal war, gingen beinahe zwei weitere Jahre ins Land, bis sie endgültig begriff, dass sie selbst etwas würde unternehmen müssen. Eine unbequeme Einsicht, doch einmal zu dieser Erkenntnis gelangt, war ihr Gedankenfluss nicht mehr aufzuhalten.
Nicht einmal Harold ahnte etwas von den Dingen, die sich in ihrem Kopf abspielten. Sie lächelte wie immer oft und viel, doch jetzt besaß ihr Lächeln eine neue Ursache: Harriet hatte nämlich einen Plan.

Der ahnungslose Harold glaubte sich im siebenten Ehehimmel, denn seine Frau hatte eine weitere Sprosse auf der sehr langen Leiter zur absoluten Perfektion erklommen.
Im Haushalt lief alles wie am Schnürchen, und in Gesellschaften versprühte Harriet einen neuen Charme, der alle bezauberte.
Die grüne Kreide machte Überstunden auf der Schiefertafel, während die rote langsam Staub angesetzt hätte, wäre sie nicht von Harriet sorgsam und regelmäßig gereinigt worden.
Ihr Punktekonto bewegte sich mittlerweile im Tausenderbereich, doch sie tauschte nicht einmal ein Paar neue Seidenstrümpfe ein.
»Ich bin eben wunschlos glücklich«, versicherte sie immer, wenn Harold sie danach fragte. Er wunderte sich häufig, auf was in aller Welt sie nur sparen mochte, doch Harriet tat das jedes Mal mit einem Schulterzucken ab. »Nichts bestimmtes, mir wird schon etwas einfallen, wenn es soweit ist«, sagte die dann und lächelte strahlend.

Harold wunderte sich noch mehr, doch als er eines Tages einen Stapel Reiseprospekte in einer ihrer Schreibtischschubladen entdeckte, wurde ihm alles klar. Natürlich, ihr zehnter Hochzeitstag stand demnächst ins Haus, wahrscheinlich wollte sie zur Feier des Tages für sie beide etwas ganz Besonderes, eine Reise in die Karibik zum Beispiel.
Für so etwas Teures gab es zwar keine Entsprechung auf der Liste, doch Harold, von Harriets Fürsorge zutiefst angetan, fand, dass ein solcher Urlaub eine wundervolle Idee wäre. Und in einem Anfall seltener Großzügigkeit beschloss er, dass er ihr die Reise schenken und ihr beeindruckendes Punktekonto davon nicht angetastet werden würde. Voller Tatendrang machte er sich umgehend auf den Weg ins nächste Reisebüro, um die Flüge zu buchen.
Während andere Ehefrauen solche Sachen von ihren Männern rundheraus fordern, spart sich meine Harriet Punkt für Punkt vom Munde ab, dachte er. Was habe ich doch für ein Glück mit meiner Frau!

Einen Tag vor dem denkwürdigen Ereignis rückte Harold mit seiner Überraschung heraus und überreichte Harriet die Flugtickets. Wie erwartet fiel sie ihm strahlend vor Glück um den Hals, versicherte, was für ein wundervoller Ehemann er doch wäre und machte sich umgehend daran, die Koffer zu packen. »Das ist ein wirklich traumhaftes Geschenk«, sagte sie, fast schon unter Tränen.

Ihr Hochzeitstag empfing sie mit strahlendem Sonnenschein, als ob sich selbst die Natur über ihr Glück freuen würde.
Harriet bereitete ein reichhaltiges Frühstück, denn sie hatte gehört, dass das Essen im Flugzeug grauenhaft sein sollte. Leise singend werkelte sie in der Küche herum und ließ ihre Blicke immer wieder zur Schiefertafel wandern. 10 000 stand da in fetten grünen Strichen zu lesen, und sie hatte diese Zahl mit einem rosa Herzchen umkringelt.
Heute, dachte sie, heute ist es endlich soweit.

Harold erschien gutgelaunt am Frühstückstisch und überreichte ihr einen Straus roter Rosen. »Für die beste aller Ehefrauen«, sagte er und Harriet war wieder einmal fast zu Tränen gerührt.
Während des Frühstücks unterhielten sie sich über ihre bevorstehende Traumreise, doch dann wechselte Harriet abrupt das Thema.
»Ich habe jetzt 10 000 Pluspunkte«, verkündete sie und ihr Lächeln hatte niemals schöner ausgesehen.
»Ich weiß, meine Liebe. Ist dir inzwischen eingefallen, was du dafür haben möchtest?«
»Oh ja, ich habe in der Tat etwas gefunden.«
Nichts an ihrem Tonfall ließ auf etwas Unangenehmes schließen, doch Harold verspürte plötzlich ein schmerzhaftes Ziehen in der Magengegend. Rasch trank er seinen Kaffee aus.
»Und was wünschst du dir so sehr, dass du ewig darauf gespart hast?«
Harriet lächelte versonnen. »Etwas wirklich außerordentlich Teures, und es steht auch auf keiner Liste, doch ich denke, dass 10 000 Pluspunkte einen annehmbaren Gegenwert darstellen.«
»Na sag schon, was ist in deinen Augen so viele Punkte wert?« Harold fühlte sich mit jeder Minute elender, irgendwie kam sein Kreislauf heute nicht so richtig in die Gänge.
Harriet erhob sich und griff, noch immer lächelnd, nach ihrem Koffer, denn draußen fuhr gerade das Taxi vor. »Das Zyankali in deinem Kaffee, den du soeben getrunken hast«, sagte sie, und zum ersten mal seit vielen Jahren entsprang ihr Lächeln der reinen, ungetrübten Freude.

-ENDE-

Entstanden ~ 2015
neu überarbeitet 2021

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